Teilhabekiste und Unterstützte Kommunikation

Nele Diercks und Lars Tiedemann

Nele Diercks nutzt Unterstützte Kommunikation. Gemeinsam mit Lars Tiedemann hat sie – mithilfe des Instruments der „Teilhabe-Kiste“ – persönliche Wünsche und Ziele erarbeitet und festgelegt, was sie für eine aktive Teilhabe benötigt. Gemeinsam berichten sie in diesem
Beitrag über den Prozess und die Teilhabeplanung.

Teilhabe, Selbstbestimmung, Unterstützte Kommunikation und Assistenz

Teilhabe heißt, dass Menschen mit Behinderung überall in der Gesellschaft mitmachen können und in jede Lebenssituation einbezogen sind. Für Menschen mit Behinderungen ist mit Einführung des Bundesteilhabegesetzes in der Bundesrepublik Deutschland der Anspruch auf "volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ (§1) gesetzlich verankert. Teilhabe basiert dabei auf den selbst gewählten Zielen der Person. Es geht darum herauszufinden, wie der Mensch mit Behinderung leben möchte und was die Person im Leben als wichtig empfindet. Teilhabeziele werden selbst bestimmt. Um Selbstbestimmung zu ermöglichen, braucht die Person eine Auswahl von akzeptablen Alternativen, über die sie entscheidet. Menschen, die aufgrund einer Beeinträchtigung nicht mit dem Mund sprechen können, benötigen eine qualifizierte Assistenz, um diese akzeptablen Alternativen entwickeln und aus ihnen auswählen zu können. Zur Umsetzung dieser selbst gewählten Teilhabeziele ist eine qualifizierte Assistenz notwendig, die auch die Fähigkeiten hat, um diese Aktivitäten und Teilhabe zu unterstützen. Wir zeigen auf, wie wir diesen Prozess mit Frau Diercks und dem Einsatz der Teilhabekiste vollzogen haben und ihn weiterentwickeln.

Nele Diercks ist eine junge Frau, die gern mit ihrem Rollstuhlfahrrad draußen unterwegs ist, in Kindergärten Bilderbücher vorliest, sich mit Freunden und Nachbarn austauscht oder sich bei der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation e. V. einbringt. Sie wohnt in dem inklusiven Wohnprojekt Vaubanaise (www.vaubanaise.de) in ihrer eigenen Wohnung. Frau Diercks hat eine Bewegungsstörung. Sie kann ihre Muskeln nicht so bewegen, wie andere Menschen. Daher kann sie ihre Arme und Beine nicht einsetzen und auch nicht mit dem Mund sprechen. Sie nutzt Unterstützte Kommunikation. Um mit Frau Diercks zu reden und sie zu verstehen, müssen einige Besonderheiten beachtet werden. Für einen Austausch mit ihr braucht man deutlich mehr Zeit. Während jemand, der mit dem Mund spricht etwa 150 Wörter in der Minute sagt, sind es bei Frau Diercks etwa 4-8 Wörter pro Minute. Frau Diercks kann nicht frei lesen und schreiben, kennt aber von vielen
hunderten Wörtern die ersten Buchstaben. Für diese Buchstaben kann sie bestimmte Laute oder bestimmte Bewegungen (Hochgucken ist z. B. der Buchstabe „S“ (S=Sonne)) machen oder ihren Sprachcomputer, den sie mit den Augen bedient, nutzen. Wenn sie ein Wort oder mehrere Wörter geäußert hat, schlägt ihr der Gesprächspartner Sätze vor und sie wählt aus, was der von ihr gewünschten Aussage am nächsten kommt.
Ist die Auswahl für Frau Diercks noch nicht akzeptabel, dann benötigt sie weitere Vorschläge, um wählen zu  können.

Die Assistenz unterstützt Frau Diercks bei der Umsetzung der von ihr selbst gewählten Zielen in allen Lebensbereichen. Frau Diercks kann selbstgewählte Aktivitäten ausführen und daran teilhaben, wenn sie AssistentInnen hat, die entsprechend fachliche und persönliche Fähigkeiten und Eignungen haben,
um sie in ihrer Kommunikation, in ihren Aktivitäten und in ihrer Teilhabe zu unterstützen. Eine zentrale Frage war und ist, was Frau Diercks eigentlich möchte und braucht. Welche Wünsche und Ziele hat sie? Was
braucht sie, um Aktivitäten ausführen und daran teilhaben zu können?

Bedarfsermittlung nach ICF

Anfang 2020 haben wir angefangen, Frau Diercks Lebenssituation mit Hilfe der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) zu beschreiben. Wir haben zunächst mit ärztlicher und therapeutischer Unterstützung Informationen in Bezug auf die zerebrale Bewegungsstörung und den daraus folgenden körperlichen Funktionsfähigkeiten und -beeinträchtigungen gesammelt. Dann wurden alle im Tagesablauf auftauchenden Aktivitäten zusammengetragen. Aktivitäten und Teilhabe wurden durch Frau Diercks bezüglich der Wichtigkeit und Qualität der Durchführung durch unterschiedliche Assistenz (ungelernte AssistentInnen, qualifizierte AssistentInnen) bewertet. Dabei wurde deutlich, dass es viele kleine Dinge im Alltag gibt, die untrennbar miteinander verbunden sind und Frau Diercks eine ganze Reihe von Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten nicht nutzen kann, wenn sie in der konkreten Situation nicht AssistentInnen
mit den nötigen Fähigkeiten zur Verfügung hat. Sofern AssistentInnen entsprechende Fähigkeiten vorweisen,
ist Teilhabe und das Durchführen von Aktivitäten möglich. Am Schluss wurden Umweltfaktoren (z. B. Einstellungen und Vorurteile, wenn jemand nicht mit dem Mund spricht) und personenbezogene Faktoren (z. B. Ausbildung, Interessen) erarbeitet.

Sammlung von Wünschen

Der Blickwinkel in Bezug auf Menschen mit Behinderungen hat sich hin zu mehr Selbstbestimmung und zu einer Personenzentrierung verändert. Das spiegelt sich auch im Bundesteilhabegesetz wider. Es geht um die eigenen Ziele und Wünsche der Menschen mit Behinderung. Diese wurden zuvor noch nicht dargestellt. Wir haben angefangen, gemeinsam mit Frau Diercks festzuhalten, was ihre Wünsche in den verschiedenen Lebensbereichen sind. Diese Wünsche wurden in einer Tabelle aufgeschrieben. Neben jedem Wunsch gab es
vier Bewertungsmöglichkeiten in Bezug auf die Wichtigkeit für Frau Diercks (0=keine, 1=wenig, 2=mittel, 3=voll). Um mögliche Abhängigkeiten zu mildern, hat Frau Diercks diese Bewertung mit drei unterschiedlichen Personen (Assistentin, Freund, Freundin) durchgeführt. Insgesamt gab es eine hohe Übereinstimmung und bei den Abweichungen wurde ein erneutes Gespräch mit Frau Diercks durchgeführt, um herauszufinden, inwieweit sie mit diesem Wunsch übereinstimmt oder ob dieser noch abgeändert werden muss.

Einsatz der Teilhabekiste – Bewertung von Zielen

Uns wurde klar, dass ein systematisches Vorgehen zur Entwicklung von überprüfbaren Teilhabezielen fehlt. Wir absolvierten eine Schulung zur Anwendung der Teilhabekiste für Nele Diercks, für die Assistenz und für die Leitung des Assistenzdienst. Mit der Teilhabekiste können Menschen mit Behinderungen ihre Teilhabeziele entwickeln. Sie können überprüfen, ob ihre Teilhabeziele erreicht und umgesetzt worden sind. In dieser Zeit gab es drei Termine von jeweils drei Stunden unter Anleitung von Andrea Deuschle (www.personenzentriertehilfen.
de) und acht weitere Termine von je zwei Stunden, bei denen Frau Diercks ihre Ziele benannt und sortiert hat. Zur Erarbeitung der Ziele wurden Materialien und Methoden der Unterstützten Kommunikation angepasst, vorbereitet und eingesetzt (z. B. Bildkarten mit Themen, Buchstaben, Sprachausgabegerät und Bewertungsskalen). Zunächst ging es im Prozess um Frau Diercks Auswahl der für sie wichtigen Bereiche. Dann erfolgte eine Sortierung in „ganz wichtig“, „wichtig“ oder „weniger wichtig“. Die Ergebnisse wurden zur Visualisierung und zur besseren Kommunikation mit Bild-/Wortkarten auf einer Wandtafel dargestellt. Nach dieser Sortierung erfolgte eine Auswahl aus mehreren hunderten konkreten Zielen. Frau Diercks hat die für sie relevanten Ziele ausgewählt und eigene Themen, die in den vorbereiteten Karten nicht dabei waren, hinzugefügt. Hier ging es darum, zu überlegen, was für Frau Diercks wichtig ist, was sie schon erreicht hat und was erhalten werden soll oder was noch nicht erreicht ist und weiterentwickelt werden soll.

Einsatz der Teilhabekiste – Teilhabeanzeiger

Nach der Auswahl und Bewertung der Ziele ging es um die Entwicklung des Teilhabeanzeigers. Er ist eine konkrete Beschreibung des Ziels. Anhand des Teilhabeanzeigers erfolgt nach Ablauf eines Jahres die Bewertung, inwiefern das Ziel erreicht worden ist. 

Meine Teilhabe-Anzeiger (Nele Diercks)
Woran würde ich merken, dass ich mein Ziel erreicht habe?

Ziel eins (Assistenzsystem)
Die Assistentinnen und Assistenten kommen zur vereinbarten Zeit. Die Unterstützungsleistung ist so, dass ich meine Aktivitäten selbstbestimmt durchführen kann. Assistentinnen und Assistenten sind für die anfallenden Tätigkeiten qualifiziert. Sie bleiben längerfristig.

Ziel zwei (Kommunikation)
Ich kann mich im Gespräch mit der Assistentin oder dem Assistenten ausdrücken, werde richtig verstanden und
bekomme die nötige Zeit und Hilfestellung. Meine Assistenz kann mit mir meine Aussagen erarbeiten und dritten Personen mitteilen. Meine Assistenz kann dritten Personen in der Kommunikation mit mir helfen. Meine Assistenz handelt in meinem Interesse als Dolmetscher.

Ziel drei (Arbeit)
Ich kann mit Assistenz die Weiterbildung der Kommunikationsbotschafter vorbereiten, durchführen und nachbereiten. Ich kann mit Assistenz die Aufgaben als Sprecherin der UK-Referenten durchführen. Ich kann mit Assistenz das Vorlesen in Kindergärten und Schulen vorbereiten, durchführen und nachbereiten. Ich kann mit Assistenz meine Vorträge vorbereiten, durchführen und nachbereiten. Ich kann mit Assistenz an den Treffen und Terminen der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation (z.B. Fachtage, Seminare) teilnehmen. Ich kann mit Assistenz an den Veranstaltungen, bei denen sich Menschen mit ähnlichen Lebenssituationen treffen, teilnehmen (z. B. Reha-Messen, Treffen Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen).

Ablauf Teilhabeplanung

Am Schluss ging es um die konkreten ersten Schritte zur Erfüllung der Ziele. Die Ziele werden jetzt umgesetzt. Gegen Ende des Zeitraumes von einem Jahr erfolgt eine Bewertung der Erreichung der Ziele und eine neue Planung. Wir sind jetzt in einem Ablauf, um diese Ziele nach den Wünschen von Frau Diercks weiter zu entwickeln und anzupassen (siehe unten rechts).

Ausblick

Alle AssistentInnen von Personen, die auf Unterstützte Kommunikation angewiesen sind, benötigen kommunikative Fähigkeiten, um die Person mit Behinderung wirksam zu verstehen und sich für diese Person verständlich mitteilen zu können. Das betrifft alle Lebensbereiche und jeden Zeitpunkt. Persönliche und fachliche Qualifikationen der AssistentInnen sind zentrale Faktoren, um eine selbstbestimmte Teilhabe und
das Durchführen von Aktivitäten zu ermöglichen. Um Selbstbestimmung und Teilhabe zu entwickeln und zu
ermöglichen, sind lebenslange pädagogische Unterstützungsprozesse erforderlich. Instrumente, wie die Teilhabekiste, sind notwendig, um Ziele aus Sicht der Person zu entwickeln und nachvollziehbar darzustellen. Diese Instrumente brauchen individuelle Anpassungen im Einsatz mit Menschen, die Unterstützte Kommunikation benötigen. Frau Diercks kann gefragt werden, welche Ziele und Wünsche sie hat, indem man ihre Kommunikation versteht und die Gesprächsregeln beachtet (z. B. sich Zeit lassen). Bei anderen Personen kann man sich z. B. über eine Befragung der Kontaktpersonen, Beobachtung oder Biografiearbeit den Wünschen und Zielen annähern. Das erfordert ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit und erfolgt durch (heil-)pädagogische Fachkräfte mit Ausbildung in der Unterstützten Kommunikation sowie einem starken Fokus auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Diese Strukturen müssen erstellt und zur Verfügung gestellt werden, um diese wichtigen und spannenden Schritte zu gehen.

 

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